Egidius Streiff, Violine
Max Reger (1873-1916) Präludium und Fuge op.131/1 (1914) Eugène Ysaÿe (1858-1931) Ballade op.27/3 (1923)
Henri Ern (1863-1930) Préludes opus medianimique 107 Études opus medianimique 46 **********
Thomas Kessler (1937-2024) „violin control“ für Violine und Synthesizer (1978)
Arthur Honegger (1892-1955) Solosonate H.143 (1940)
Franz Liszt (1811-1886) Mephisto Walzer (1859–62, Milstein/ES)
Obwohl nicht verbürgt, dass Max Reger und Eugène Ysaÿe sich je begegnet sind, bewegen sich die beiden Komponisten im selben Spannungsfeld zwischen Spätromantik und aufbrechender Moderne. Während der Arbeit rückte jedoch unversehens ein anderes Element in den Vordergrund; jenes der Nationalen Zugehörigkeit, die angesicht der Zwistigkeiten in der Ukraine und nahen Osten Menschen dazu zwingt, „Farbe“ zu bekennen.
Dabei denke ich oft an einen Text von Stefan Zweig. Der Österreicher Zweig schreibt 1917 die Trauerrede „Erinnerung an Emil Verhaeren“ für seinen verstorbenen Belgischen Freund, über die Grenzen der verfeindeten Staaten hinaus. Darin schreibt er – und das war für die Gesellschaft in der Zeit von Reger und Ysaye gleich aktuell wie für uns heute:
“ Was einstmals in allen Nerven und Gedanken freundschaftlich verbunden war, sollte sich nun Feind nennen“, oder „Fern zu sein (..) hat das Geschick mich gezwungen, das unsinnige und unselige Geschick einer Zeit, da die Sprache mit einemmal zwischen den Völkern eine Grenze ward und die Heimat ein Gefängnis, Anteil ein Verbrechen und Menschen einander Feinde nennen sollten, deren Leben verbunden war mit allen Adern geistiger und freundschaftlicher Vertrautheit“.
Und zuletzt: „Nur mir selbst schreibe ich diese Blätter, und von den Freunden sind nur jene gewählt, die ihn selbst kannten und liebten“.
So soll es gelten: Von Freunden und für Freunde wünsche ich zu spielen!
Denn Freunde sind mir die Komponisten geworden: Max Reger und Eugène Ysaÿe.
In ihren jeweiligen Heimatländern waren sie die „Grössten“. Regerfeste waren im deutschen Sprachraum grosse gesellschaftliche Anlässe. Anekdoten über die Person Reger existieren zuhauf, geistreiche, gutmütige, unbändige. Der Zufall wollte es, dass ich schon früh Werke von Max Reger spielte und seinem frechen Schalk verfiel, aber auch seinem Pathos und heiligen Ernst. Seither habe ich eine CD mit Solowerken eingespielt und mitgewirkt an einer DVD mit der Einspielung des Schlüsselwerks „Affe, Schaf“ (die BBC kürte sie zur Music DVD of the year!). Und jetzt die späten Präludien in ihrer ganzen Nachdenklichkeit. Ich hatte mich entschieden, aus den 1914 von Reger geschriebenen Präludien und Fugen Opus 131 die erste in a-moll mit der zehn Jahre später geschriebenen Ballade von Ysaÿe zu verbinden. Der Brückenschlag zu Ysaÿe´s berühmter Ballade mag nur im gemeinsamen „a“ gründen, doch die Bedeutung des belgischen Geiger war jener Regers nicht unähnlich. Er wurde vom Publikum, aber auch von buchstäblich allen Violinisten zwischen 1880 und 1920 als Doyen der Geige verehrt. Sein unermüdlicher Einsatz für zeitgenössische französische Musik erhöhte seinen Ruf gar: Er galt als führender Virtuose mit den betörendsten Tönen und Begründer der französischen Geigenschule. Aber auch als hochexpressiver Komponist ist Ysaÿe von Interesse; man beachte etwa seine späten Préludes. Nebst seinen Solosonaten begleiten sie mich seit vielen Jahren. Die Ballade mutierte im heutigen Konzertleben zum vielgespielten „pièce de concours“ mit zunehmend abgeschliffenen, romantisch-virtuosen Clichés, ohne dabei Schaden zu nehmen.
Aus der gleichen Welt wie Ysaÿe entstammen auch Henri Ern, Arthur Honegger – und erstaunlicherweise auch Thomas Kessler. Die drei Schweizer Komponisten sind trotz ihrer unterschiedlichen Wesensart und Werdegangs dem Geist Ysaÿes verpflichtet – zumindest während der Niederschrift der heute erklingenden Werke!
Henri Ern (man beachte die packende Lebensbeschreibung von Max Sommerhalder) war ein herausragender Schweizer Geiger in der Tradition des reisenden Virtuosen, Komponisten und Lehrers in Personalunion. Seine Préludes und Études sind von beträchtlicher Schwierigkeit: Kurze, kühn notierte Charakterstücke, die in Salons als auch auf grossen Bühnen gleichermassen überzeugen konnten. Die im Vergleich zu den zeitgleich entstandenen Werken von Reger fehlende „Modernität“ mag einem amerikanischen Publikum wenig bewusst gewesen sein. Seine spiritistisch anmutende Aussage, dass er Inspiration aus dem Jenseits erhielt, bekommt bei genauerem Hinhören eine entwaffnenden Charme, da geschulte Kenner Anklänge an Werke von Niccolò Paganini, Pietro Locatelli , aber vor allem Heinrich Wilhelm Ernst entdecken mögen. Diese waren jedoch dem damaligen Publikum in Amerika kaum ein Begriff, und heute sind sie zumeist auch hierzulande aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden, so dass wir Henri Ern gänzlich neu hören dürfen, also genau wie damals, als sie geschrieben wurden.
Sowohl Arthur Honegger als auch Thomas Kessler spielten zunächst Violine. So legte Kessler in der Erarbeitung von „violin control“ grossen Wert auf konventionell klassisches Geigenspiel und schönste Klänge („das muss klingen wie Ysaÿe“ sagte er mir einmal). Gleichzeitig entzieht er den Hörenden mit einfachsten Mitteln den Boden, wenn er die Geige elektronisch nach unten „spiegelt“, oder mit einer sarkastischen Anspielung an den Klang von Gewehrsalven. Das ursprünglich wunderbar unterhaltsame, leichtfüssig geistreiche Werk „violin control“ fordert so zum leisen Lächeln heraus, aber eben nicht nur: Eine ambivalente Meisterleistung aus der Zeit nach dem Vietnamkrieg.
Von Honeggers Leidenschaft für die Geige weiss man aus Berichten über gemeinsame Übzeiten mit Darius Milhaud (dies äusserte sich z.B. in einer horrend schwierigen Kadenz Honeggers zu Milhaud´s „le Boeuf sur le toit“, die gespickt ist mit Ysaÿscher Geigentechnik). Von seinen Werken für Violine wird die zweite Sonate für Violine und Klavier oft gespielt, seltener sein „pièce de concours“ und die erste Geigensonate. Gar selten bis nie ist seine Solosonate zu hören, deren spärlich überlieferte Zeugnisse in der Paul Sacher Stiftung Basel zu finden sind. Beim Erarbeiten wurde mir unversehens bewusst, dass das Werk in den Monaten nach der erneuten Besetzung von Paris im Jahr 1940 geschrieben wurde. Stefan Zweig schrieb dreissig Jahre zuvor:
„Ich habe damals geschwiegen, öffentlich und im stillen“. Honeggers Musik ist nicht politisch. Sie schweigt, öffentlich und im stillen. Ist es diese unangenehme Wahrheit des ohnmächtigen Schweigens, die in den Ecksätzen der Sonate mit Wucht anklingt?
Franz Liszt schrieb einen „Tanz in der Dorfschenke“, der später als 1. Mephisto Walzer berühmt wurde. Dass Nathan Milstein diesen für Geige solo bearbeitete, ist kein Zufall: In der von Liszt und Lenau überlieferten Programmnotiz klaut Mephistopheles die Geige des leicht lethargischen Violinisten – und nimmt so Milsteins Übertragung auf die Geige vorweg.
Mit der Referenz an Mephistophelischen Witz endet unser Abend.
Egidius Streiff hat in Basel und London u.a. mit Hansheinz Schneeberger studiert. Neben seiner Begeisterung für die Geige waren ihm immer auch neue Klänge wichtig. Dies führte zu Uraufführungen neuer Geigenkonzerte China (Wang Xilin mit dem China National Symphony Orchestra und dem Beijing Symphony Orchestra) und Brasilien (Harry Crowl mit dem Orquestra de Paranà), aber auch in Europa mit dem Symphonieorchester Basel oder dem TU-Orchester Dresden. Mit diesen Reisen einher ging das Interesse an Zusammenarbeit mit lokalen Musikern. So entstanden Kulturprojekte in der Mongolei und eine eigentliche Pionierleistung in Korea, aus der eine Zusammenarbeit von Nordkoreanischen und Schweizer Musikern mit Konzerten in der Schweiz und Pyöngyang entstand. Unvergesslich bleibt die Aufführung von Othmar Schoecks Geigenkonzert mit dem Isang-Yun-Orchester Pyöngyang.
Er hat Ausstellungen zu Max Reger, Adolf Busch und Rudolf Serkin kuratiert und mit seinem Label streiffzug.com wichtige Tondokumente veröffentlich, so etwa die Uraufführung der Geigenkonzerte von Bartòk und Martin mit Hansheinz Schneeberger, oder die legendäre Aufnahme der Hammerklaviersonate mit Jürg Wyttenbach.
Seine eigenen Aufnahmen reichen von Bartok´s Solosonate (aufgenommen 1994 für en avant records) bis zur Ersteinspielung der Urfassung von Isang Yun´s Violinsonate (2019 capriccio). Egidius Streiff unterrichtet an der Musikschule der Musik Akademie Basel.
Er spielt auf zwei „Peter“ Geigen; auf einer Pietro Guarneri, Mantova 1702 und auf einer Peter Westermann, Zürich 2020
www.egidiusstreiff.ch www.streiffzug.com
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